Cooler Typ oder erstklassischer Betrüger Quelle: Süiegel online
Fußball
Carlos Henrique Kaiser: Fußball-Hochstapler aus Brasilien
Fake-Fußballer Carlos Kaiser Der Kicker, der nie kickte
Er wollte das Leben eines Fußballstars. Und bekam es. Nur spielen wollte er lieber nicht. Das konnte er trickreich vermeiden. Wie Carlos Kaiser gut 20 Jahre lang die Fußballwelt narrte - eine irre Geschichte aus Brasilien.
Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Carlos Kaiser: "Ich hatte Angst vor dem Ball"
Bevor sich der Mann, den sie den "Kaiser von Rio" nennen, zum Gespräch setzt, nestelt er an einer Plastiktüte. Dann breitet er auf dem Tisch einen Stapel abgegriffener Spielerausweise aus: "Sehen Sie, das sind einige der Vereine, für die ich gespielt habe: Botafogo, Bangu, Gazelec Ajaccio. Nur dass Sie nicht glauben, ich würde Sie anlügen."
Auf den Ausweisfotos blickt ein langhaariger junger Mann ernst in die Kamera. Es ist derselbe, der auf vergilbten Zeitungsausschnitten neben dem roten Porsche von Romário posiert und im Karneval neben dem Kickeridol Renato Gaúcho ins Blitzlicht grinst: Carlos Henrique Raposo Kaiser. "Athlet" steht in dicken Balken über seinem Namen.
Seine Geschichte ist so bizarr, dass man sie ohne Fotos, Zeitungsausschnitte, Aussagen von Zeitzeugen kaum glauben würde. Seine unübersichtlich vielen Stationen sind nicht in jedem Detail überprüfbar. Klar ist aber: Mehr als 20 Jahre lang schlug Kaiser sich als Profifußballer durch, obwohl er kaum spielte. Und das nicht etwa, weil die Vereine ihn nicht einsetzen wollten, sondern weil er sich drückte: Er hat immer die größtmögliche Distanz zum Ball gesucht.
"Ich hatte Angst vor dem Ball"
Als "Forrest Gump des Fußballs" bezeichnete ihn eine brasilianische Zeitung, als "besten Kicker, der nie gespielt hat" sein Freund Renato Gaúcho, ein Spitzenfußballer. Kaiser selbst nennt sich ungeniert "Größter Gauner des brasilianischen Fußballs" - und hätte das auch gern als Überschrift über dieser Geschichte.
Kaiser zählte zum Kader von einigen der wichtigsten Klubs Brasiliens, wurde nach Mexiko und Argentinien verpflichtet, verbrachte sogar einige Jahre in Europa. Aber auf dem Platz sah man ihn so gut wie nie. Weil er alles tat, um nicht spielen zu müssen: "Ich hatte Angst vor dem Ball."
Meist simulierte er Verletzungen. "Vor dem ersten Einsatz tat ich so, als hätte ich mir einen Muskelriss zugezogen oder den Knöchel verstaucht. Es gab damals noch keine modernen Diagnosemethoden. Mein Wort stand gegen das des Arztes." Mehrmals ließ Kaiser auch seine Großmutter sterben oder täuschte vor, am Handy mit Konkurrenzvereinen zu verhandeln, um gesperrt zu werden. Seine Verträge waren zumeist auf wenige Monate begrenzt; sie endeten, bevor er zum Einsatz kam.
Ein Vierteljahrhundert tingelte er so durch die Klubs Brasiliens und der Welt. In Rio de Janeiro war er bei allen großen Vereinen: Flamengo, Botafogo, Fluminense, Vasco da Gama. Kaiser suchte die Nähe der Sportlerprominenz und sonnte sich in ihrem Glanz - "ich habe das Ambiente geliebt".
Er war der König der Nacht...
Um das zu verstehen, muss man sich zurückversetzen in die Achtziger- und Neunzigerjahre in Rio, als es noch kein Internet gab, Ferngespräche ein Vermögen kosteten und Fußballer echte Machos waren. Wenn sie nicht spielten, gingen sie an den Strand oder trommelten in Sambagruppen; nachts zogen sie durch die Klubs, mit einer Traube von Mädchen im Schlepptau.
"Das Leben war ein einziges Fest", sagt Kaiser. Er war galant und charmant, sah gut aus und kam bei den Frauen an: "Eine am Morgen, eine am Mittag, eine am Abend", prahlt er. Seine Frau Monica, eine Bodybuilderin, lächelt ihn an. Sie kennt all die Geschichten, sieht sie ihm aber nach: "Er hat sich geändert."
Zur Ruhe gebracht habe ihn vor allem sein Alter, sagen Freunde: "Er hält das Nachtleben nicht mehr aus", so Ex-Fußballer Alexandre Torres, Sohn des Kickeridols Carlos Alberto. Kaiser ist 54 Jahre alt, demnächst wird er an der Retina operiert und kann die Nachrichten auf seinem Handy kaum noch lesen.
Er lebt jetzt vor allem von seinen Erinnerungen. Gerade hat ein englisches Fernsehteam einen Rückblick auf seine Karriere gedreht, die keine war. Der Film taucht ein in die goldene Fußballära von Rio, als manch ein Profi seine Karriere verspielte, weil er lieber feierte.
...aber als Fußballer ein "Desaster"
Kaiser war der Türöffner für andere Spieler aus ebenso einfachen Verhältnissen wie er. Er wies ihnen den Weg durch die Nacht von Ipanema. Er kannte und teilte alle Kniffe, um in diesem Biotop zu überleben. Seinen Freunden besorgte Kaiser weibliche Begleitung, wenn sie das wünschten. Einmal mietete er im Hotel bei einem Auswärtsspiel ein ganzes Stockwerk für die Frauen, nachts brauchten die Spieler nur eine Treppe hinunterzulaufen. Er half auch, wenn ein Fußballer mit dem Sportwagen in eine Alkoholkontrolle geriet, für alle Probleme hatte er eine Lösung.
"Er ist ein liebenswerter Malandro", sagt Alexandre Torres, so nennt man die Rio-typische Mischung aus Gauner und Lebenskünstler. "Seine Lippe war besonders groß." Im Jargon der Cariocas, der Einwohner von Rio, bedeutet das: Er konnte charmieren und Leute beschwatzen wie kein zweiter - ein Mann, von dem man eher keinen Gebrauchtwagen kaufen würde, mit dem man aber Pferde stehlen kann.
Auf dem Platz dagegen war er "ein Desaster", so sein früherer Kollege Ricardo Rocha, heute in leitender Funktion beim FC São Paulo. Das störte die Profikicker nicht. Sie dankten ihm seine Freundschaftsdienste, indem sie ihn vor Fußballmanagern in Schutz nahmen. Wurde ein Starkicker an einen neuen Klub vermittelt, ging Kaiser oft als Beigabe mit. Der Talente-Pool der Vereine war so groß, dass sie einen Drückeberger leicht verschmerzen konnten.
Dass er überhaupt Profi wurde, sei die Schuld seiner verstorbenen Adoptivmutter, sagt Kaiser: "Ich habe ihr das nie verziehen." Geboren wurde er 1963 als Carlos Henrique Raposo in Porto Alegre. Seine biologischen Eltern habe er nie kennengelernt, "ich wurde als Baby adoptiert". Mit seiner neuen Familie zog er nach Rio, die Adoptivmutter brachte den Zehnjährigen mit Hilfe eines Fußballagenten in Botafogos Jugendteam unter. "Wie andere Jungen hatte ich auf der Straße gebolzt, wollte aber nie Profi werden", sagt er. Seine Mutter habe einen Knebelvertrag mit einem Agenten ausgehandelt, aus dem er nur bei Zahlung einer hohen Strafe aussteigen konnte.
Künstlername à la Beckenbauer
Ein paar Jahre spielte er bei Botafogo und schoss sogar mal ein Tor, "aber es hat mir keinen Spaß gemacht". Sein Agent vermittelte ihn weiter zu Flamengo. Von Rios größtem Verein wurde er noch als Jugendlicher erstmals ins Ausland verpflichtet und spielte drei Jahre lang für Puebla in Mexiko. "Ich bin angetreten, wo mein Manager mich hinschickte."
Auch in Europa war er, mit 26, für mindestens eine Saison; bei Gazelec Ajaccio auf Korsika kann man sich vage an ihn erinnern. Einen bleibenden Eindruck hinterließ er nicht - er tat alles, um nicht aufzufallen. Dass Kaiser Vereinsmanager betrog, bereitete ihm kein schlechtes Gewissen: "So habe ich mich für die Ausbeutung der Spieler gerächt."
Zurück in Rio legte er sich Anfang der Neunziger einen Künstlernamen zu: "Ich bewunderte Beckenbauer, also nannte ich mich Kaiser." Sein Freund Carlos Alberto, der einst mit dem Deutschen bei Cosmos New York spielte, nahm ihn mit in einen Sambaklub, wo Franz Beckenbauer zu Gast war. "Jetzt habe ich zwei Kaiser zum Freund", schwärmte Carlos Alberto.
Im Nachtleben machte sich der Kaiser von Rio auch seine Ähnlichkeit zum Mädchenschwarm Renato Gaúcho zunutze und trug ebenfalls meist eine Sonnenbrille. Die beiden wurden oft verwechselt, Kaiser konnte sich an Gaúchos Stelle in Nachtklubs schleichen. Nur einmal wären ihm die Ausschweifungen fast zum Verhängnis geworden: Vor einem Spiel für Bangu AC hatte Kaiser sich bis morgens um vier Uhr in einer Disco herumgetrieben. Als Bankdrücker rechnete er nicht mit einem Einsatz.
Mit Schlägerei die Einwechslung verhindert
Bangu gehörte damals Castor de Andrade. Der Gangsterboss, der das illegale Glücksspiel in Rio kontrollierte, ordnete beim 0:2-Rückstand des Klubs an, dass der Reservist spielen sollte. "Ich hatte Angst, bei dem Mann in Ungnade zu fallen", erinnert sich Kaiser.
Also hüpfte er flink über die Absperrung, prügelte sich mit einem Zuschauer - und wurde prompt gesperrt. Nach der Partie kündigte Kaiser seinen Abschied von Bangu an. Doch Andrade hatte Mitleid: "Er überredete mich zu bleiben und verdoppelte mein Gehalt."
Fotostrecke
Erst mit 41 Jahren stieg Carlos Henrique Kaiser endgültig aus dem Profifußball aus und trainiert seither Frauen für Bodybuilding-Wettbewerbe. Seine heutige Lebensgefährtin schaffte es vor zwei Jahren auf den 13. Platz bei der WM in Polen, in Brasilien war sie Vizechampion. "Ich investiere in ihre Karriere", sagt Kaiser.
Stolz zeigen beide ihre Eheringe vor. Sie lernten sich bei einem Interview für ein Internetvideo kennen und sind seit einem Jahr zusammen. "Monica hat mir ein neues Leben eröffnet", beteuert Kaiser, er sei jetzt Buddhist. Wenn er über ihre Liebe spricht, kommen ihm die Tränen, während des Gesprächs halten die beiden Händchen.
An die alten Zeiten erinnert er sich gern, trauert ihnen aber nicht hinterher. Seine ehemaligen Fußballerfreunde halten ihm die Treue, Renato Gaúcho bezahlt seine Augenoperation. Nur eines bereue er, sagt der Kaiser von Rio: "Ich habe den Fußball nicht ernst genommen. Sonst wäre ich Millionär."